Bei einem Referendum des Vereinigten Königreichs am 23. Juni 2016 stimmten 51,89 % der Wähler für den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union. Dieses Ergebnis sorgte sowohl in Europa als auch in Amerika für Aufsehen. Mit dem Brexit strebt Großbritannien ein Ausscheiden aus dem Europäischen Binnenmarkt an, was u.a. ein Ende der Personenfreizügigkeit bedeuten würde. Waren und Güter sollen dann aber im Rahmen eines Freihandelsabkommens zwischen der EU und Großbritannien ausgetauscht werden können. Bereits kurz nach dem Brexit-Votum äußerten wir unsere Skepsis, ob der Austritt wirklich kommen würde oder ob es sich nicht nur um einen verlängerten Bluff handele. Jetzt sollte die EU „callen“, um die wahre Stärke der UK-Hand zu erfahren.
Vor etwas mehr als einem Jahr haben die Gespräche zum Austritt Großbritanniens aus der EU begonnen, das offizielle Austrittsdatum ist der 30. März 2019. Die Europäer sind natürlich gegen einen EU-Austritts Großbritanniens, da sie Nettozahler sind. Die EU verlangt 60 Milliarden Euro für den Brexit. Wer die Union verlässt, sollte dafür zahlen müssen. Das betrifft Pensionsverpflichtungen, offene Rechnungen, zugesagte Beiträge für Förderprogramme oder die Haftung für gemeinsame Schulden. Sechzig Milliarden sind aber kein Pappenstiel. Zum Vergleich: In den EU-Haushalt haben die Briten 2015 gut elf Milliarden Euro mehr eingezahlt, als sie herausbekamen. Und das war schon doppelt so viel wie im Jahr davor, weil London Rückstände begleichen musste. Nun geht es also um eine Summe, die fünf- bis zehnmal so groß ist wie die letzten Schecks für Brüssel. Vor der Abstimmung hatten die Brexit-Befürworter mit diesen Zahlungen Politik gemacht. Sie rechneten zum Beispiel vor, wie man dieses Geld in die heimische Infrastruktur oder das Gesundheitssystem investieren könne, wenn die britischen Beiträge in Britannien blieben. Zudem kommen noch Kredite und Bürgschaften hinzu, mit denen die EU-Kommission den Mitgliedstaaten unter die Arme greift. Wenn die das Geld abstottern, ist alles gut. Aber was, wenn Italien, Spanien oder Portugal plötzlich pleitegehen? Die Briten haften für fast zehn Milliarden Euro.
Selbst in Großbritannien gibt es Gegenwind. Schottland und Wales fürchten, dass der Einfluss der britischen Regierung in London nach dem Brexit zu groß wird. Die Regionalregierungen in Edinburgh und Cardiff wollen das nicht hinnehmen. Sie fordern deshalb, dass einige Kompetenzen wie Fischfang und Landwirtschaft, die nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union von Brüssel zurückübertragen werden, nicht in London angesiedelt werden. Allerdings lehnt die Regierung von Premierministerin Theresa May es ab, dass Schottland und Wales nach dem Brexit einzelne Bereiche auf ihre Weise regeln – London strebt einheitliche Regelungen im gesamten britischen Wirtschaftsraum an. Schottlands Premierministerin drohte unterdessen mit einem zweiten Unabhängigkeitsreferendum, sollte London versuchen, der Region ihre Politik aufzuzwingen. Die Brexit-Verhandlungen kommen also nur schleppend voran. In den wichtigsten Fragen herrscht nicht einmal innerhalb der Regierung von Premierministerin Theresa May Einigkeit. Damit es wie geplant im kommenden März zu einem geordneten EU-Austritt kommen kann, müsste eigentlich bis Oktober der Scheidungsdeal zwischen London und Brüssel stehen. Nach jahrelangem Streit hatte May ihr Kabinett vor einer guten Woche auf eine weiche Brexit-Linie eingeschworen. Dieses sogenannte „Weißbuch“ sieht die Schaffung einer EU-Freihandelszone für Güter sowie weitere enge Beziehungen zu Brüssel vor. Aus Protest dagegen hatten Brexit-Minister David Davis und Außenminister Boris Johnson ihre Ämter wenig überraschend niedergelegt. Sie vertreten die Meinung, dass die Briten der EU zu weit entgegenkommen wollen. Doch ein Durchbruch ist nicht in Sicht. Jetzt preschen immer mehr Unternehmen und Verbände vor und machen ihre Bedenken öffentlich. Vor allem die so wichtige Finanzindustrie ist von Mays Vorschlag enttäuscht. Die Lockerung der Bindungen an die EU werde die Schaffung von Arbeitsplätzen sowie das Wachstum von Wirtschaft und Steuereinnahmen behindern. Auch der Dienstleistungsbereich müsse in die anvisierte Freihandelszone aufgenommen werden.
Brexit wird mit hoher Wahrscheinlichkeit zum wirtschaftlichen Bumerang
Ähnliches fordert auch der Verband TheCityUK, der den Finanzsektor und verwandte Dienstleistungssparten vertritt. Der Dienstleistungssektor macht 80 Prozent der britischen Wirtschaft aus, dazu zählen die 2,2 Millionen Beschäftigten in der Finanzindustrie. Am Tag der Veröffentlichung des „Weißbuchs“ hat die Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde (ESMA) britische Geldhäuser aufgefordert, noch diesen Monat eine Lizenz zu beantragen, wenn sie nach einem eventuellen „harten“ Brexit im März kommenden Jahres weiterhin in der EU Bankgeschäfte betreiben wollen. Viele Auslandsbanken kümmern sich bereits um jene Banklizenzen. Die Bevölkerung steht schon lange nicht mehr hinter dem EU-Austritt. Für die jungen Leuten ist glasklar, dass es mit einem Großbritannien innerhalb der EU deutlich mehr Perspektiven in Sachen Ausbildung, Jobsuche und Wettbewerbsfähigkeit geben würde. Und ob nicht schon genügend Hektik und Unsicherheit in Sachen Brexit herrscht, gießt US-Präsident Trump zusätzlich Öl ins Feuer, in dem er Premierministerin May rät die EU zu verklagen. Beim Pokern würde man jetzt wohl den Einsatz verdoppeln.
Die nächsten Wochen und Monate dürften spannend werden. Wir gehen immer stärker davon aus, dass es keinen Brexit geben wird und der Bluff auffliegt. So langsam dämmert es den Britten, dass ihr Gegenüber ebenfalls Nerven aus Stahl haben könnte und professionell agiert. Jetzt wäre beim Pokern die Zeit, um sich zu überlegen, ob man „All In“ geht. Wäre Trump an Mays stelle, wäre dies bereits passiert.